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AutorenbildMaria Holzmann

Das Yoga der Geburt

Die Geburt eines Kindes ist eine große körperliche und emotionale Herausforderung. Sie kann trotz bestmöglicher Vorbereitung mit Stress, Ängsten und Unruhe einhergehen. Ursachen und Faktoren, die die Geburtserfahrung beeinflussen, sind für jede Frau, ihren Körper und ihr Baby individuell und letzt- lich nicht voraussagbar (vgl. Bardacke 2018: 108ff). Der Körper wird Empfindungen haben, der Geist Gedanken und es werden unzählige Gefühle aufkommen. „Make no mistake: Labor is challenge. It is work (Gurmukh 2004: 140).“ Wie kann man sich auf diese Dimensionen vorbereiten und die geistigen und körperlichen Voraussetzungen schaffen, dass sich der Körper öffnen, verändern und ein Baby zur Welt bringen kann? Yoga gilt als gute Geburtsvorbereitung. Atemtechniken helfen in den Wehen und manche Positionen eignen sich, sie während der Geburt einzunehmen, um die Schwerkraft zu nutzen, zu entspannen oder zu gebären. Das alles stimmt – dahinter verbirgt sich jedoch viel mehr.

Einführung Atembewusstsein

Jeder Mensch wird mit einem Einatmen geboren und stirbt mit einem Ausatmen. Durch diesen Prozess des Gebens und Nehmens sind wir in das große Netz des Lebens eingebunden: „We are part of this whole thing, this universe. If you can connect to that, you can connect to this instrument that is your body, and you can connect to your birth (Gurmukh 2004: 163f).“ Trotz der Größe dieser Verbunden- heit, schenken wir unserem Atem meist nur wenig Beachtung. Dabei kann er uns aus dem gewohnten Tun-Modus heraus- und in den Sein-Modus hineinleiten. In ersterem denken und analysieren wir un- aufhörlich, in letzterem können wir das Erleben von Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen, so wie sie sind, erfahren. Der Atem ist das Tor zum Sein-Modus, um im Moment und im Zustand des Gewahrseins zu bleiben (vgl. Bardacke, 2018: 69ff). Auch Iyengar schreibt, dass durch die rhythmi- sche Abfolge reinen, langen und tiefen Atmens das Atemsystem gestärkt, die Nerven besänftigt und die Begierde verringert werden. Wenn Begierde und Verlangen, oder hinsichtlich der Geburt: der Wunsch nach Kontrolle, zurückgehen, wird das Denken freigestellt und zu einem Werkzeug der Kon- zentration (vgl. Iyengar 2017: 37). So verankert im Hier und Jetzt können wir aus dem denkenden Geist heraustreten und einen Ort der Ruhe, Leichtigkeit und Verbindung mit uns und der ganzen Welt aufsuchen. Der Geist hat einen Zufluchtsort, an den er immer wieder zurückkehren kann.

Pratyahara als Geschenk bewussten Atmens

Stehen die Sinne zurück, hat man die Möglichkeit, sich tief auf einer anderen Ebene zu verbinden, schreibt Gurmukh und fährt fort: „You have to birth from within. Yoga and meditation can be the golden chain that links the two of you together in this profound miracle we call creation (Gurmukh 2004: 84).“ Die 5. Stufe des achtgliedrigen Pfades nach Patanjali beschreibt genau das: Pratyahara, das Zurückziehen und Befreien der Gedanken von der Herrschaft der Sinne und der äußeren Gegenstände (vgl. Iyengar 2017: 15). Anders ausgedrückt ist Pratyahara die Sinnesanbindung an das Innere, das Zurückziehen der Sinne (vgl. Sriram 2006: 123ff). Das bedeutet, dass die Sinne gereinigt werden und

das Innenleben an Kraft gewinnt. Dadurch öffnen sich die Sinne für tieferes Wahrnehmen (vgl. ebd.: 148f). Das heißt nicht, dass es sich um einen vollständigen Rückzug aus der Welt handelt. Laut Desh- pande stammt der Sanskrit-Begriff Pratyahara aus derselben Wurzel wie das Wort fasten. Es geht also vielmehr um eine willentliche Enthaltung, das Verhindern der ungefilterten Aufnahme und Wahrneh- mung äußerer Sinneseindrücke mit dem Ziel, den Geist zu beruhigen und sich bewusst auf die inneren Vorgänge auszurichten, die das wahre Selbst erkennen lassen (vgl. Deshpande 2021: 71). So entsteht eine Wahrnehmung von allem, was in Bewegung ist: „Damit gemeint sind die Bewegungen der Ge- fühle, der Gedanken, der Empfindungen im Körper und alle Bewegungen außerhalb des Körpers. Es ist nun nicht mehr die übliche Sinneswahrnehmung, die sich nur nach außen richtet, sondern eine Wahrnehmung, die meine inneren Vorgänge mit einschließt (Bärr 2015/16: 32).“ Für diese bewusste Erfahrung plädiert auch Eddie Stern in seiner Erläuterung zu Pratyahara: „I consciously choose to pay attention to the awareness that lies below and is the power behind my sense organs (Stern 2019: 29).“ Insbesondere für Frauen die gerade ein Kind zur Welt bringen, kann dieser Rückzug nach innen ein Weg sein, sich auf die eigene mentale und körperliche Kraft zu konzentrieren: „People who have been around women in labor can tell you it seems as if they are on another planet – and they have to be, in order to reduce the influence of the brain’s neocortex, the so-called intellectual part of the brain (Gur- mukh 2004: 173f).“ Um zu einer solchen ‚Nach-innen-Schau‘ zu gelangen, braucht es auch in Stresssi- tuationen eine gewisse Ruhe und Gelassenheit (vgl. Bärr 2015/16: 33). Das Geheimnis dabei ist der Zugang zum Atem: „Die Achtsamkeit auf den Atem ist eine der einfachsten und wirkungsvollsten Übungen des Yoga. Sie führt die Sinne weg vom Außen nach innen (Bärr 2015/16: 33).“

Was passiert im Kopf?

Angst kann den Geburtsprozess empfindlich beeinflussen und einen inneren Widerstand gegen die Situation aufbauen (vgl. Bardacke 2018: 152f). Wie lässt sich verhindern, dass die Angst die Ober- hand gewinnt? Zum einen, indem man die äußeren Umstände um die Geburt möglichst optimal gestal- tet: Informationen und Wissen von seriösen Quellen einholen, eine Hebamme finden, den Partner in die Geburtsvorbereitung einbeziehen, nach Möglichkeit einen Geburtsort wählen, an dem man sich wohlfühlt etc. Da man die äußeren Bedingungen aber letztlich nicht voll unter Kontrolle hat, muss zum anderen das innere System der Ruhe und Bindung gestärkt werden. Wie kann das geschehen? Das autonome (vegetative) Nervensystem des Menschen steuert die unwillkürlichen Vorgänge im Körper, beispielsweise Atmung, Herzschlag und Stoffwechsel. Hierzu empfängt es Signale aus dem Gehirn und sendet sie an den Körper. Es setzt sich aus dem parasympathischen, dem sympathischen und dem enterischen Nervensystem zusammen. Letzteres beschreibt ein eigenes Nervensystem des Darmes, das weitgehend unabhängig den Verdauungsvorgang reguliert (vgl. IQWiG 2019: elektroni- sche Quelle). Hinsichtlich dieser Arbeit steht das Zusammenspiel des parasympathischen Nervensys- tems, das dominiert, wenn man ruhig und entspannt ist (Ruhe und Bindung), und des sympathischen Nervensystems, welches in physischen und psychischen Stresssituationen (Kampf oder Flucht) domi- niert, im Vordergrund (vgl. Bardacke 2018: 144). Lässt man den Geist in den Strudel von angstauslösenden Gedanken über Vergangenheit und Zukunft gehen, wird Adrenalin ausgeschüttet, ein Stresshormon, das den Körper vor eine „Kampf oder Flucht“-Situation stellt. Der Geist erzeugt also sogar bewusst Leiden und arbeitet dem Prozess, der das Baby zur Welt bringen wird, entgegen (vgl. Bardacke 2018: 138). Das parasympathische Nervensys- tem muss gestärkt werden, um das sympathische Nervensystem in Schach zu halten und mehr Ruhe und Bindung zu erreichen. Hier schließt sich der Kreis: Für die Yogis stellt Pratyahara einen Weg dar, mit dem Nervensystem zu arbeiten, „[...] because exteroception, the outward movement of the senses, uses energy of the sympathetic nervous system for the sense organs to gather information. This ener- getic drain is either tiring or overexciting for the mind (Stern 2019: 210).“ Die Kontrolle der Sinnesor- gane durch Meditation stärkt die innere Energie wiederum, da sie nicht für das Sammeln, Erfassen oder Filtern von Informationen aus der Außenwelt verbraucht wird. Stern führt aus: „Withdrawal of our awareness away from the outside world through the sense organs, and directing it toward our inner world, is calming for the mind because it down-regulates the sympathetic nervous system (Stern 2019: 211).“

Während des Geburtsprozesses Ruhe und Frieden finden

Für die meisten Menschen ist es schwer, im Hier und Jetzt zu bleiben. Die Sinne sammeln ständig Informationen, doch „wenn der Verstand eines Menschen dem Druck der Sinne nachgibt, ist er verlo- ren (Iyengar 2017: 39).“ Strebt der Geist während der Geburt danach, in eine andere Phase zu gelan- gen und widersetzt sich der Wahrheit des gegenwärtigen Moments, wird Energie verschwendet. Ein nichtstrebender, konzentrierter Geist, der mit den Anstrengungen des Körpers im jeweiligen Moment zusammenarbeitet, ist die größte Hilfe (vgl. Bardacke 2018: 46). Auch Gurmukh schreibt: „Lose all thought. [...] Our minds get stuck on the last contraction; that’s an event that has already happened, it‘s part of the past. Experience it, and let it go. [...] Ride one wave at a time, not looking back, not looking forward. That is what I mean when I tell you to create a meditative mind (Gurmukh 2004: 182).“ Emotionale Erregung – und eine Geburt ist ein emotionaler Ausnahmezustand – beeinflusst die Ge- schwindigkeit der Atmung. Im Umkehrschluss hält eine liebevolle Regulierung des Atems emotionale Erregung in Schach. „Da sein Hauptanliegen die Kontrolle und Beruhigung der Gedanken ist, lernt der Yogi zuerst Pranayama, um den Atem zu meistern. Das befähigt ihn, die Sinne zu kontrollieren und dadurch die Stufe des Pratyahara zu erreichen. Erst dann ist das Denken zur Konzentration (dhyana) fähig (Iyengar 2017: 38).“ Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für den Geburtsprozesses gewin- nen?

„While laboring, a voice might say ‚I can’t do this, it’s too hard‘, then you must follow with, ‚Yes, I can. Yes, I am stronger than I have ever been in my whole life‘ (Gurmukh 2004: 54).“ Um diese inne- re Stärke und Ruhe zu erlangen, aus der heraus schließlich neutral beobachtet werden kann, hilft es, sich vom Denken zum Spüren hin zu orientieren – ganz wie im Yoga: „Das ist das, was jetzt ist. Der Atem, den ich spüre, geschieht genau jetzt (Bärr 2015/16: 32).“ Versteht man im Geburtsprozess, dass man nur den gegenwärtigen Moment beeinflussen kann, fallen alle Erwartungen und Vorstellungen über die Zukunft ab und der Geist wird offen und bereit für das, was ist. Gelingt es, den Atem Atem sein, ihn kommen und gehen zu lassen, werden Gleichmut und Ruhe kultiviert: „Sie können sich ent- scheiden, Ihre Wehen dabei zu beobachten, wie sie durch ihren Körper wandern, weil die Empfindun- gen bei der Geburt kommen und gehen wie der Atem (Bardacke 2018: 82).“ Die Wehen können über- wältigend sein, nimmt man sie als einen langen, nicht enden wollenden und ständigen Schmerz wahr. Anstatt sich von den Schmerzen abzulenken, kann ein ruhiger Geist dabei helfen, mitten in die Emp- findungen einzutauchen, sie willkommen zu heißen und so dem Moment, wenn das Baby geboren wird, ein Stück näher zu kommen (vgl. Gurmukh 2004: 163): „Go deep within yourself and find that meditative mind; what you will find is a way to feel each discrete moment (Gurmukh 2004: 163).“ Das heißt nicht, dass man diesen jeweiligen Moment und die Wehen mit allem, was sie an Gefühlen, Empfindungen und Schmerzen mitbringen, mögen muss. Das Annehmen des Moments hilft vielmehr, die Situation klar, konzentriert und als Ausgangspunkt für Veränderungen zu sehen. Ist die Fähigkeit gefestigt, in jedem Augenblick wach und bewusst zu sein, ist eine selbstbestimmte Geburt möglich und können Entscheidungen, bspw. anhand der sogenannten VRANNI-Methode für notwendige medi- zinische Interventionen, klarer und besser getroffen werden (vgl. Anhang I 2021: VRANNI-Methode).

Schlussfolgerung

Die hohe Geschwindigkeit unserer Zeit spiegelt sich auch in der Geburtshilfe, die sich zudem durch vielfältige medizinische und technische Möglichkeiten auszeichnet (vgl. Bardacke 2018: 17). Diese sind ohne Zweifel ein Segen und haben ihre Berechtigung. Doch wo und wie auch immer eine Frau entbindet, hat sie das Recht, sich während der Geburt sicher und entscheidungsmächtig zu fühlen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist das Vertrauen in die eigene Person. Ein Vertrauen, dass man mit allem umgehen kann, was während dieser Erfahrung geschieht, egal, wie anstrengend, schwierig, schmerzvoll, beängstigend oder weit entfernt von den eigenen Vorstellungen es ist. Den Zugang zu Atem und Pratyahara vorab zu üben und unter der Geburt zu finden, hilft, dieses Vertrauen aufzubauen und sich dem Geburtsprozess von Moment zu Moment hinzugeben und vielleicht sogar eine tiefe inne- re Ruhe, ein Gefühl der Sicherheit und Zufriedenheit zu finden. Der Moment der Geburt kann schließ- lich einhergehen mit einem Gefühl der tiefen Verbundenheit mit Uraltem, mit einer umfassenden Er- kenntnis in einem völlig bewussten mentalen Zustand, frei von Gedanken und Wünschen: „Sind die Gedanken bewegungslos und frei von Trägheit und Zerstreuung, ist der Zustand der Gedankenlosig- keit (Amanaska) erreicht, die höchste Stufe des Samadhi (Iyengar 2017: 38).“

Auch wenn die Geburt nicht so verläuft wie erhofft und Frauen mit Enttäuschung, Traurigkeit und Schuldgefühlen zu kämpfen haben, kann die Praxis dabei helfen, diesen Gefühlen mit Mitgefühl und Wohlwollen zu begegnen und so einen Weg der Heilung einzuschlagen (vgl. Bardacke 2018: 18). Schwangerschaft und Geburt sind große Lehrmeister, wenn man bereit ist, die damit einhergehenden Lektionen mit Geist, Körper und Herz aufzunehmen: „When you go into labor, you take yourself out of the middle of your circle of existence, and you place your baby into it. This light so bright that the love for this child will lift you out of the middle into celebration. Let your ‚self‘ fall away and become something greater than what you have ever imagined possible (Gurmukh 2004: 184).“

Referenzen und Quellen

  • Bärr, Eberhard (2015/16): Den Blick nach innen richten: Pratyahara. In: Yoga Aktuell Spezial Nr. 5 „Meditation & Achtsamkeit“. Wiggensbach: Yoga Verlag GmbH.

  • Deshpande, Rina (2021): Der Rückzug der Sinne. In: Yoga Journal Nr. 78 „Sehnsucht nach Sinn“. Pullach im Isartal: well media GmbH.

  • Pahler, Susanne (2020): Traut es euch zu! In: Eltern Nr. 9 2020 „Schwerpunkt Geburt 2020“. Hamburg: Gruner + Jahr GmbH. Bücher:

  • Bardacke, Nancy (2018): Der achtsame Weg durch Schwangerschaft und Geburt. 3. Auflage. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.

  • Gurmukh (2004): Bountiful, beautiful, blissful: Experience the natural power of pregnancy and birth with Kundalini yoga and meditation. Reprint Edition. New York: St Martin‘s Press.

  • Iyengar, B.K.S. (2017): Licht auf Yoga – das grundlegende Lehrbuch des Hatha-Yoga. 7. Auflage. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.

  • Sriram, R. (2006): Das Yoga-Sutra: Von der Erkenntnis zur Befreiung. Bielefeld: Theseus-Verlag.

  • Stern, Eddie (2019): One simple thing: A new look at the science of Yoga and how it can trans- form your life. 1. Edition. New York: North Point Press. Internet:

  • Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen – IQWiG (2019): Wie funktio- niert das Nervensystem? URL: https://www.gesundheitsinformation.de/wie-funktioniert-das- nervensystem.html Abgerufen am: 30.11.2021.

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